Carnivore-Diät bei postviralen Erkrankungen erklärt
Das Interesse an der Carnivore-Diät boomt – besonders bei Menschen mit chronischen Erkrankungen, die nach schneller Linderung suchen. Doch bei ME/CFS, Long-COVID und anderen postviralen Syndromen kann diese extreme Ernährungsform langfristig mehr schaden als nützen.
Lassen Sie uns das Thema aufschlüsseln – und mit einer wichtigen Unterscheidung beginnen.
Eine Carnivore-Diät ist ketogen – aber eine ketogene Diät ist nicht Carnivore
Dieser Unterschied ist entscheidend. Ich empfehle seit Jahren therapeutische ketogene Ernährungsformen für postvirale Erkrankungen wie ME/CFS und Long-COVID – nicht, weil sie im Trend liegen, sondern weil sie zentrale Krankheitsmechanismen ansprechen: mitochondriale Dysfunktion, chronische Entzündungen und gestörten Energiestoffwechsel.
Eine ketogene Ernährung ist dadurch definiert, dass sie eine sogenannte nutritional ketosis auslöst. Typische Makronährstoffverteilung:
70–80 % Fett
10–20 % Eiweiß
5–10 % Kohlenhydrate (meist 20–50 g verwertbare Kohlenhydrate pro Tag)
Die Carnivore-Diät ist dagegen eine extreme Form von Keto mit:
60–90 % Fett
10–40 % Eiweiß
0 % Kohlenhydrate (keine Ballaststoffe, keine pflanzlichen Lebensmittel, keine Polyphenole)
Beide Ansätze können Ketose fördern, aber Carnivore schließt alle pflanzlichen Nahrungsmittel aus – ein gravierender Nachteil, denn gerade diese sind im therapeutischen Keto-Ansatz unverzichtbar.
Eine gut aufgebaute ketogene Ernährung enthält zum Beispiel:
Nicht stärkehaltiges Gemüse (z. B. Blattgemüse, Zucchini, Brokkoli)
Fermentierte Lebensmittel (z. B. Sauerkraut, Kimchi)
Kräuter und Gewürze reich an Polyphenolen (z. B. Kurkuma, Rosmarin)
Diese Komponenten sind kein „nice to have“, sondern entscheidend für:
Vielfalt des Darmmikrobioms
Butyrat-Produktion
Reduktion von oxidativem Stress und systemischer Entzündung
Unterstützung der Darm-Gehirn-Immun-Achse
Wer diese Lebensmittel – wie bei der Carnivore-Diät – weglässt, schwächt genau die Systeme, die in der postviralen Genesung am meisten Unterstützung brauchen.
1. Niedriges Butyrat bei ME/CFS – Carnivore-Diät macht es schlimmer
Einer der bedenklichsten Effekte der Carnivore-Diät in diesem Zusammenhang ist der vollständige Verzicht auf fermentierbare Ballaststoffe – die wichtigste Energiequelle für butyratbildende Darmbakterien.
Ein Mangel an Butyrat kann tiefen Schlaf beeinträchtigen und zu nicht erholsamem Ruhen beitragen. Butyrat ist nicht nur ein Stoffwechselprodukt im Darm – es gelangt in den Blutkreislauf und beeinflusst schlafregulierende Zentren im Gehirn. Tierstudien zeigen, dass es den NREM-Schlaf vertiefen kann, und erste Daten am Menschen deuten auf eine Rolle für Schlafqualität und Regeneration hin.
Butyrat entsteht, wenn Darmmikroben bestimmte Ballaststoffe fermentieren, vor allem resistente Stärke, die vorkommt in:
gekochten und abgekühlten Kartoffeln oder Reis
grünen Bananen
Hülsenfrüchten (wenn verträglich)
bestimmten Vollkornprodukten
Diese Lebensmittel fehlen vollständig in einer Carnivore-Diät.
Bei Personen mit bereits bestehender postviraler Dysbiose kann dieser Mangel an fermentierbarem Substrat führen zu:
weiterem Butyrat-Abbau
schlechterer Schlafregulation
erhöhter Darmpermeabilität
verstärkter Entzündung und Immundysfunktion
Zwar kann weniger Fermentation vorübergehend Blähungen reduzieren, doch die langfristige Folge ist eine regelrechte mikrobielle Verarmung – nicht Heilung.
2. Das Herz-Kreislauf-Risiko ist real – besonders ohne Ballaststoffe
Gesättigte Fette sind nicht grundsätzlich schädlich, aber ohne Ballaststoffe und pflanzliche Schutzstoffe verändert sich ihre Wirkung – besonders bei Menschen mit postviraler Insulinresistenz.
Insulinresistenz ist bei ME/CFS und Long-COVID gut dokumentiert. Studien zeigen eine gestörte Glukoseaufnahme, erhöhte Insulinspiegel und mitochondriale Unflexibilität – selbst bei schlanken Personen.¹,² Eine Studie aus dem Jahr 2023 fand bei Long-COVID-Patienten eine gestörte mitochondriale Fettsäureoxidation und eingeschränkte Insulinsensitivität.¹
In diesem Kontext kann eine hohe Aufnahme gesättigter Fette – ohne den ausgleichenden Effekt von Ballaststoffen – das kardiometabolische Risiko erhöhen. Ballaststoffe wirken, indem sie:
Gallensäuren binden und die Cholesterinaufnahme senken³
Butyrat-bildende Bakterien füttern, die die Insulinsensitivität verbessern⁴
Glukose- und Lipidspitzen nach Mahlzeiten abflachen⁵
Menschen mit ApoE4-Genotypen sind besonders gefährdet: Sie zeigen stärkere LDL-C-Anstiege und mehr Entzündung bei fettreichen, ballaststoffarmen Ernährungsformen.⁶ Für postvirale Patienten ergibt sich dadurch ein erhöhtes Risiko – vor allem, wenn bereits autonome oder vaskuläre Dysfunktionen bestehen.
Eine gut konstruierte ketogene Ernährung kompensiert dies durch Ballaststoffe, Omega-3-Fettsäuren und Polyphenole. Die Carnivore-Diät schließt all dies aus.
3. Eingeschränkte Mikrobiom-Vielfalt bei postviralen Erkrankungen – Carnivore-Diät macht es schlimmer
Ein Verlust an mikrobieller Vielfalt ist ein durchgängiger Befund bei ME/CFS und Long-COVID.⁴,⁵ Studien zeigen:
Verminderung von Faecalibacterium prausnitzii und anderen Butyrat-Bildnern
Überwucherung von Enterobacteriaceae
Erhöhte Darmpermeabilität
Verringerte Produktion kurzkettiger Fettsäuren (SCFA)⁶
Diese Dysbiose trägt bei zu:
Fatigue und Brain Fog
Immundysregulation
Stimmungsstörungen und Schlafproblemen
Der Wiederaufbau der mikrobiellen Vielfalt erfordert Substrate – also „Treibstoff“ für die Darmmikroben. Polyphenole wirken wie selektive Präbiotika: Sie nähren nützliche Bakterien und hemmen gleichzeitig schädliche Stämme.
Polyphenolreiche Lebensmittel sind zum Beispiel:
Beeren
Grüner und schwarzer Tee
Oliven und natives Olivenöl extra
Kräuter und Gewürze
Dunkle Schokolade (in Maßen)
In Kombination mit resistenter Stärke und niedrig-FODMAP-Gemüse können diese Verbindungen die Mikrobiom-Vielfalt wiederherstellen. Die Carnivore-Diät schließt all diese Möglichkeiten aus.
Manche Befürworter behaupten, dass Isobutyrat auf einer Carnivore-Diät den Mangel an Ballaststoffen ausgleichen könne. Zwar entsteht Isobutyrat durch mikrobielle Fermentation von Aminosäuren wie Valin, doch es hat nicht die gleichen Vorteile wie Butyrat aus Ballaststoffen.
Butyrat wird in der Regel von nützlichen, ballaststoffabbauenden Arten wie Faecalibacterium und Roseburia gebildet, die die Darmbarriere stärken, das Immunsystem regulieren und den Stoffwechsel unterstützen. Diese Arten sind bei postviralen Erkrankungen oft reduziert. Isobutyrat hingegen wird häufiger von proteolytischen Bakterien produziert, die gleichzeitig Ammoniak und p-Kresol bilden – Verbindungen, die mit Entzündungen und einer gestörten Darmbarriere assoziiert sind.⁹
Es stimmt, dass Weidebutter und Ghee Butyrat in Form von Tributyrin enthalten. Doch der Großteil wird im Dünndarm absorbiert und erreicht den Dickdarm nicht, wo Butyrat seine wichtigsten Effekte entfaltet.¹⁰,¹¹ Die direkte Aufnahme von Butyrat kann systemische Vorteile haben, fördert aber nicht die mikrobielle Vielfalt oder die fermentationsbasierte SCFA-Produktion, die für die Wiederherstellung der Darmgesundheit entscheidend ist.
Bei postviralen Erkrankungen, in denen die Mikrobiom-Vielfalt bereits eingeschränkt ist, ist es unwahrscheinlich, dass eine ballaststoff- und pflanzenfreie Ernährung langfristig zu einer echten Genesung beiträgt.
Carnivore-Diät: Warum sie manchen hilft
Einige Menschen mit ME/CFS, Long-COVID oder Fibromyalgie berichten über deutliche Symptomlinderung durch eine Carnivore-Diät. Doch dies spiegelt eher eine gestörte Darmfunktion wider – nicht einen Bedarf an fleischbasierter Ernährung.
Vorübergehende Verbesserungen beruhen oft auf:
Reduzierter FODMAP-Belastung (weniger Fermentation und Blähungen)
Fastenähnlichem Effekt (weniger mikrobielle Abbauprodukte)
Vereinfachter Verdauung (hilfreich bei SIBO oder niedriger Magensäure)
Geringerer Histamin-/Salicylat-/Oxalat-Belastung (häufig bei MCAS)
Diese Effekte sorgen für eine Art „Darmruhe“, lösen aber nicht die Ursache. Ein FODMAP-armes, ketogenes Konzept oder eine sorgfältig aufgebaute Eliminationsdiät kann ähnliche Vorteile bringen – ohne langfristig die Darm- und Stoffwechselgesundheit zu gefährden.
Fazit: Es gibt keine Abkürzungen in der postviralen Genesung
Die Carnivore-Diät kann kurzfristig Erleichterung bringen, ist aber für die meisten Menschen mit postviralen Syndromen weder nachhaltig noch sicher. Ein klügerer Ansatz unterstützt die Butyrat-Produktion und die mikrobielle Widerstandskraft durch:
Eine FODMAP-arme ketogene Ernährung, die pflanzliche Polyphenole einschließt
Resistente Stärke, angepasst an die individuelle Verträglichkeit
Refeeding-Strategien, die das Mikrobiom aufbauen statt unterdrücken
Kurzzeitiges Carnivore kann als vorübergehendes Eliminationswerkzeug dienen – aber nur, wenn anschließend eine strukturierte Wiedereinführung erfolgt, die gezielt das Mikrobiom stärkt. Ohne diesen Schritt überwiegen die Risiken den Nutzen.
Der klügere Weg: Ernährung und Darmgesundheit für postvirale Erkrankungen:
Therapeutisches Keto und Fasten
FODMAP-arm + Polyphenol-Refeeding
Mikrobiom-orientierte Strategien mit Fokus auf mitochondriale Unterstützung
Hier beginnt echte Heilung – nicht bei Extremen.
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Referenzen
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