Ernährung bei ME/CFS und Long COVID: Lehren aus der Altersforschung
Es gibt kaum direkte Ernährungsforschung zu postviralen Erkrankungen wie Myalgische Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) oder Long COVID/Post-Acute Sequelae of COVID (PASC). Für Betroffene kann das frustrierend sein und zu Unsicherheit führen, welchen Empfehlungen sie überhaupt vertrauen können. Die Realität ist jedoch, dass es äußerst schwierig ist, hochwertige, langfristige Ernährungsstudien für heterogene postvirale Patientengruppen zu planen und zu finanzieren – und deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir in absehbarer Zeit groß angelegte Studien zu Ernährung bei diesen Erkrankungen sehen werden.
Aus diesem Grund gehe ich einen anderen, evidenzbasierten Weg. Ich stütze meine Ernährungsempfehlungen auf Erkenntnisse aus der Altersforschung, weil sich der Körper bei postviralen Erkrankungen biologisch deutlich älter verhält, als er tatsächlich ist. Diese Erkrankungen werden inzwischen als sogenannte „Aging Phenotypes“ bezeichnet – Zustände, bei denen die biologischen Veränderungen einer beschleunigten Alterung ähneln.
Aufgrund dieser Überschneidungen ähneln die besten Ernährungsstrategien bei ME/CFS und PASC häufig denen, die auch älteren Menschen empfohlen werden. Und die gute Nachricht ist: Es gibt bereits jahrzehntelange hochwertige Forschung dazu – sie liefert uns eine klare Orientierung, wie wir genau jene Systeme unterstützen können, die bei postviralen Erkrankungen gestört sind: Muskulatur, Mitochondrien, Immunsystem und Darm.
Proteinaufnahme: Schutz vor Muskelschwund und Schwäche
Eines der klarsten Beispiele aus der Altersforschung betrifft den Proteinbedarf.
Mit zunehmendem Alter benötigen Menschen mehr Protein, um Muskelmasse zu erhalten und Gebrechlichkeit vorzubeugen.
Älteren Erwachsenen wird empfohlen, 1,2–1,6 g Protein pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag zu sich zu nehmen – deutlich mehr als die üblichen 0,8 g/kg, die für gesunde Erwachsene mittleren Alters gelten (Harris et al., 2025).
Warum das bei postviralen Erkrankungen wichtig ist:
Menschen mit ME/CFS oder PASC leiden häufig an Muskelschwund, ähnlich wie ältere Erwachsene – verursacht durch Mitochondriendysfunktion und Bewegungsmangel. Das bedeutet, dass ihr Proteinbedarf oft dem eines älteren Menschen gleicht, selbst wenn sie erst 30 oder 40 Jahre alt sind.
Praktischer Tipp: Achte darauf, zu jeder Mahlzeit eine hochwertige Proteinquelle einzubauen – etwa Bohnen, Tofu, Eier oder Fisch. So unterstützt du gezielt Muskelaufbau, Regeneration und Energieproduktion.
Mikronährstoffe: Grundlage einer nährstoffdichten Ernährung
Ein zentrales Prinzip der Ernährung im Alter – und damit auch ein Eckpfeiler meines Ansatzes – ist die nährstoffdichte Ernährung. Mit zunehmendem Alter steigt der Bedarf an Vitaminen und Mineralstoffen, um Immunsystem, Muskelkraft und Energieproduktion zu erhalten, während der Kalorienbedarf gleichzeitig sinkt.
Bei ME/CFS und PASC gilt dasselbe: Diese Erkrankungen führen zu einem erhöhten Nährstoffbedarf aufgrund von chronischer Entzündung, Mitochondriendysfunktion und anhaltender Immunaktivierung. Gleichzeitig haben viele Betroffene aufgrund von Appetitlosigkeit, Verdauungsproblemen oder eingeschränkter Lebensmittelauswahl Schwierigkeiten, ausreichend Nährstoffe aufzunehmen.
Eine systematische Übersichtsarbeit zeigte, dass Mikronährstoffmängel bei älteren Erwachsenen weit verbreitet sind – insbesondere bei Vitamin D, Magnesium und B-Vitamine (ter Borg et al., 2015). Ähnliche Defizite sind auch bei Menschen mit postviralen Erkrankungen sehr wahrscheinlich.
Vitamin D
Mit dem Alter sinkt die körpereigene Produktion von Vitamin D durch geringere Sonnenexposition und eine reduzierte Synthesefähigkeit der Haut.
In postviralen Erkrankungen verschärfen Inaktivität und längere Aufenthalte in Innenräumen dieses Problem.
Ein Mangel ist mit Müdigkeit, Muskelschwäche und einem erhöhten Infektionsrisiko verbunden – Symptome, die bei ME/CFS und PASC häufig auftreten.
B-Vitamine (insbesondere B12 und Folat)
Die Aufnahme von B12 nimmt mit dem Alter aufgrund niedrigerer Magensäureproduktion ab.
B12 ist entscheidend für Nervenfunktion, Energieproduktion und Blutbildung.
Ein Mangel kann zu Gehirnnebel, Neuropathien und extremer Müdigkeit beitragen – alle Symptome, die auch bei ME/CFS und PASC auftreten.
Folat wirkt eng mit B12 zusammen und sollte ebenfalls optimiert werden.
Magnesium und Kalium
Diese Elektrolyte sind wichtig für Nervensignale, Muskelkontraktionen und die Mitochondrienfunktion.
Sie werden häufig nicht in ausreichender Menge aufgenommen oder gehen durch Schweiß und Urin verloren.
Eine ausreichende Versorgung unterstützt sowohl die Herz-Kreislauf-Gesundheit als auch stabile Energielevel.
Kalorienrestriktion: Aktivierung von Langlebigkeitswegen
Kalorienrestriktion (CR) – eine verringerte Kalorienaufnahme ohne Nährstoffmangel – ist eine der am besten erforschten Maßnahmen zur Verlangsamung biologischer Alterungsprozesse.
In der CALERIE-Studie zeigte eine zweijährige moderate Kalorienrestriktion eine Verlangsamung der biologischen Alterung, gemessen an DNA-Methylierungsmarkern (Waziry et al., 2023).
Langfristige CR reduzierte zudem chronische Entzündungen, ohne die Immunfunktion zu beeinträchtigen – ein zentraler Aspekt sowohl bei der Alterung als auch bei postviralen Erkrankungen (Meydani et al., 2016).
Warum das bei ME/CFS und PASC wichtig ist:
Diese Erkrankungen sind durch anhaltende Entzündungen, gestörte Zellreparatur und Mitochondriendysfunktion gekennzeichnet. Kalorienrestriktion oder zeitlich begrenztes Essen (Intervallfasten) können diese Prozesse gezielt beeinflussen und Stoffwechsel- sowie Immunfunktionen verbessern.
Wichtig: Ziel ist nicht extremes Fasten oder Crash-Diäten. Richtig angewendet, kann eine milde Kalorienrestriktion oder ein gut strukturierter Fastenplan die Gesundheit unterstützen, ohne Schaden anzurichten.
Ballaststoffe: Unterstützung für Darm, Immunsystem und Gehirn
Ballaststoffe spielen eine entscheidende Rolle für die Darm- und Immunfunktion – zwei Systeme, die sowohl mit zunehmendem Alter als auch bei postviralen Erkrankungen beeinträchtigt sind.
Bei älteren Erwachsenen gilt:
Eine ballaststoffreiche Ernährung ist mit besserer kognitiver Leistungsfähigkeit verbunden (Prokopidis et al., 2022).
Ballaststoffe fördern eine größere Vielfalt der Darmmikrobiota, die mit dem Alter abnimmt, und unterstützen die Bildung kurzkettiger Fettsäuren wie Butyrat, die Entzündungen reduzieren und die Darmbarriere stärken.
Warum das bei ME/CFS und PASC wichtig ist:
Fast alle Betroffenen haben eine Dysbiose – ein Ungleichgewicht der Darmbakterien – ähnlich wie ältere Erwachsene. Eine ballaststoffreiche Ernährung kann helfen, dieses Gleichgewicht wiederherzustellen, systemische Entzündungen zu senken und Symptome zu stabilisieren.
Praktischer Tipp: Steigere die Ballaststoffzufuhr langsam, um Verdauungsbeschwerden zu vermeiden. Besonders geeignet sind Beeren, Linsen, Leinsamen und grünes Blattgemüse.
Fazit: Altersforschung als bester Leitfaden
Da wir in absehbarer Zeit keine groß angelegten Ernährungsstudien speziell für ME/CFS oder PASC erwarten können, bleibt die Altersforschung unsere beste evidenzbasierte Grundlage. Sie liefert bewährte Strategien zur Unterstützung der Systeme, die bei postviralen Erkrankungen am stärksten betroffen sind:
Protein, um Muskelschwund und Schwäche zu verhindern (Harris et al., 2025)
Mikronährstoffe, um den erhöhten Bedarf zu decken (ter Borg et al., 2015)
Kalorienstrategien, um Entzündungen zu reduzieren und Zellreparatur zu fördern (Meydani et al., 2016; Waziry et al., 2023)
Ballaststoffe, um Darm, Immunsystem und sogar die Gehirnfunktion zu unterstützen (Prokopidis et al., 2022)
Mein Ansatz basiert nicht auf Vermutungen oder Meinungen – er stützt sich auf Jahrzehnte sorgfältiger Forschung darüber, wie Ernährung den alternden Körper unterstützt. Wenn wir diese Erkenntnisse auf postvirale Erkrankungen übertragen, erhalten wir eine wissenschaftlich fundierte Grundlage für Ernährungsempfehlungen – selbst in Abwesenheit krankheitsspezifischer Studien.
Referenzen
Harris S, DePalma J, Barkoukis H. Protein and Aging: Practicalities and Practice. Nutrients. 2025;17(15):2461. Published 2025 Jul 28. doi:10.3390/nu17152461
ter Borg S, Verlaan S, Hemsworth J, et al. Micronutrient intakes and potential inadequacies of community-dwelling older adults: a systematic review. Br J Nutr. 2015;113(8):1195-1206. doi:10.1017/S0007114515000203
Meydani SN, Das SK, Pieper CF, et al. Long-term moderate calorie restriction inhibits inflammation without impairing cell-mediated immunity: a randomized controlled trial in non-obese humans. Aging (Albany NY). 2016;8(7):1416-1431. doi:10.18632/aging.100994
Waziry R, Ryan CP, Corcoran DL, et al. Effect of long-term caloric restriction on DNA methylation measures of biological aging in healthy adults from the CALERIE trial. Nat Aging. 2023;3(3):248-257. doi:10.1038/s43587-022-00357-y
Prokopidis K, Giannos P, Ispoglou T, Witard OC, Isanejad M. Dietary Fiber Intake is Associated with Cognitive Function in Older Adults: Data from the National Health and Nutrition Examination Survey. Am J Med. 2022;135(8):e257-e262. doi:10.1016/j.amjmed.2022.03.022